Deutschlands Kamera-Dilemma: Große Empörung, wenig Medienkompetenz

Fotografieren (über wal_172619)
Fotografieren (über wal_172619)

Es gibt Reflexe, die in Deutschland so zuverlässig funktionieren wie das Amen in einer Dorfkirche: Taucht irgendwo eine Kamera auf, mobilisiert sich binnen Sekunden ein ganzer Komplex aus Bedenken, Rechten und gefühlter Bedrohung. Plötzlich wird über Persönlichkeitsrechte doziert, über Hausrecht verhandelt, über Datenschutz philosophiert – mit einer Ernsthaftigkeit, die nahelegt, hier stünde das Grundgesetz selbst zur Disposition.

Das Absurde daran: Genau jene Menschen, die am lautesten Alarm schlagen, drängen sich oft vorher demonstrativ ins Bild. Nicht zufällig, nicht beiläufig, sondern durchaus mit einem gewissen gestischen Selbstbewusstsein. Und kaum läuft die Kamera, setzt der panische Rückzug ein: Forderungen nach sofortiger Löschung, Beschwerden über fehlende Erlaubnis, Drohungen mit Polizei oder Anwalt.

Diese Mischung aus Selbstdarstellung und Kontrollangst ist ein deutsches Dauerthema. Man möchte sichtbar sein – aber nur kontrolliert. Man möchte Teil der Situation sein – aber bitte folgenlos. Man sucht Aufmerksamkeit – aber nur, solange jemand anderes sie nicht dokumentiert. Es ist die Gleichzeitigkeit aus Bedürfnis und Verweigerung, aus Präsenz und Flucht, die diesen Widerspruch so grundlegend macht.

Hinzu kommt: Viele der aufgebrachten Vorwürfe halten juristisch nicht stand. Zwischen Bauchgefühl, Stammtischrecht und falsch verstandener DSGVO entstehen Forderungen, die mit der tatsächlichen Rechtslage wenig zu tun haben. Die Kamera wird zur Projektionsfläche für Unsicherheit – nicht für echte Rechtsverletzungen.

Dabei wäre die Lage eigentlich einfach: Gelassenheit hilft mehr als Lautstärke. Wer unbeabsichtigt ins Bild gerät, kann höflich fragen. Wer bewusst hineinspringt, sollte sich später nicht überrascht geben. Und wer Medienarbeit grundsätzlich ablehnt, könnte überlegen, ob die Empörung wirklich der Kamera gilt – oder dem eigenen Kontrollverlust.

Denn der größte Widerspruch zeigt sich genau dort: Die lautesten Beschwerden kommen oft von denen, die sich am schnellsten in Szene setzen. Vielleicht wäre es Zeit, weniger Angst vor Kameras zu haben – und mehr Mut, die eigene Rolle dabei ehrlich zu betrachten.

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